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Esoteric Audio Research 861

Text von: Cai Brockmann

Der große Meister mit dem langen Bart (oder war es andersherum?) ist immer für Überraschungen gut. De Paravicinis EAR 861 etwa läuft mit TV-Röhren im „Enhanced Triode Mode“ – wer sonst traut sich so etwas?

Wirklich tief greifende Neuerungen bei Röhrenverstärkern sind rar. Sehr rar. Denn als besonders innovationsfreudig gelten Vakuumspezialisten nicht gerade. Die große Hauptarbeit scheint längst gemacht: Praktisch alle Röhrenverstärker dieser Welt sind, zumindest im Prinzip, Variationen einer knappen Hand voll Basisschaltungen. Und die wurden zumeist in der Röhren-Frühzeit formuliert. Seitdem ist genug Zeit verstrichen, um ihre Qualitäten in den unterschiedlichsten Spielarten – und selbstredend immer „völlig einzigartig“ – zu beweisen.

Der enge Bezug zur Historie ist kein Grund zum Jammern. Hektische Modellwechsel oder der „Trend des Monats“ sind sowohl unter Röhrenentwicklern als auch den so genannten Konsumenten (welch profanes Wort) gleichermaßen unbeliebt. Man entscheidet sich für eine bestimmte Röhre nicht, weil diese gerade besonders en vogue ist. Oder gar irgendeinen praktischen Vorteil gegenüber gutem „Sand“ (= Transistor) besitzt. Da lüge man sich nur nicht in die Tasche: Im alltäglichen, vor allem im sorglosen Umgang mit der Hardware besitzen Transistoren handfeste Vorteile gegenüber Röhren, ähnlich der CD gegenüber der LP. Die jeweils ältere Technik fordert schlichtweg etwas mehr Aufmerksamkeit und Rücksicht, um in vollem klanglichen Glanz zu erstrahlen (und kurzerhand die Youngsters abzubügeln). Dieses Mehr an Zuwendung entfacht natürlich erst recht das Interesse von Audiophilen und Mu­sik­liebhabern, idealerweise in Personalunion. So ist das nun mal mit den Steckenpferden: Ein bisschen Aufwand muss schon sein, sonst kann’s ja jeder!

Ein Grund, sich für Glas und damit gegen Sand zu entscheiden, ist zweifellos auch in der archaischen Faszination zu finden, welche die glimmenden Kolben ausüben. Stichworte: Feuer, Kamin, Licht. Gleichwohl dürften letztlich die klanglichen Qualitäten ausschlaggebend sein. Schließlich gibt es etliche Komponenten, die ihre Röhren tunlichst verstecken und sich trotzdem gut verkaufen. Der optische Reiz vakuumverpackter Glühwürmchen kann es allein nicht sein.

Das ist bei diesem Glanzstück nicht anders. Die Esoteric Audio Research 861 wurde, wie alle EAR-Produkte, von einem gewissen Timothy de Paravicini entwickelt und gehört ganz gewiss nicht zu den Geheimniskrämern, was ihre Funktion betrifft. Die Endstufe im kraftstrotzenden Dampflok-Design stellt ihr Dasein als Vollröhre unmissverständlich zur Schau. Vorne eine dicke Frontplatte in Chrom, auf der Rückseite unterschiedliche Trafoabgriffe für verschiedene Lastimpedanzen. Dazwischen erheben sich die genretypischen Erkennungsmerkmale – feiste Glaskolben und massive Übertrager – als Skyline auf einem schwarzen Chassis. Wobei die vier Leistungsröhren der EAR 861 offensichtlich so heiße Typen sind, dass sie nur hinter zylindrisch geformten Gittern frische Luft schnuppern dürfen. Recht so. Die EL519 entwickelt nämlich ganz anständige Temperaturen und besitzt zudem außen liegende Kontakte, die trotz fest sitzender Schutzkappen keinesfalls zu unterschätzen sind, denn hier liegt die Betriebsspannung an! Hier wird freiwillig nur herumfummeln, wer zur Addams Family gehört und eine regelmäßige 500-Volt-Ladung zur Weckung der Lebensgeister braucht … Die schwarz lackierten Schutzgitter bleiben ansonsten immer an ihrem Platz, bitte schön!

Doch was bleibt mit Käfig vom beliebten optischen Kamineffekt, vom zarten Glühen? Nun, die EL519 mag vielleicht nicht zu den hellsten Sternen am Vakuumhimmel gehören, verbreitet aber im abgedunkelten Zimmer auch hinter Gittern noch dezente Röhrenstimmung. Es sollte reichen.

Kaum ins Gewicht fällt, dass im Inneren der spiegelsymmetrisch aufgebauten 861 weitere Röhren werkeln. Zwei ECC83 und sechs PCC88 sorgen in der Eingangs- respektive Treiberstufe für eine korrekte Signalverwaltung. Diese Bestückung ließe (noch) auf eine durchaus konventionelle Schaltung schließen, doch die Leistungsröhren des Verstärkers sprechen eine andere Sprache. Die sehen nicht nur ungewöhnlich aus, man darf sie sogar – zumindest in einer Audio-Komponente – zu den absoluten Exoten zählen. Die EL519 kennt man vielleicht als zuverlässiges Arbeitstier im Fernseh-Umfeld, als Leistungslieferant in Verstärkern ist sie aber kaum bekannt.

Diese Tatsache wiederum könnte Mr. TdP ganz besonders gereizt haben.

Tim de Paravicini, der ebenso scheue wie selbstbewusste Engländer mit dem italienischen Adelsnamen, ist unter „Tubisten“ bekannt wie ein bunter Hund. Er genießt den Ruf eines skurrilen Genies nicht zuletzt deswegen, weil er sich mit seinen EAR-Maschinen nicht im Geringsten um das schert, was wohl gerade angesagt sein könnte; de Paravicini dreht stets seine eigenen Dinger. Im extrem breit gestreuten EAR-Programm gibt es zum Beispiel einen Verstärker mit nicht weniger als 20 (zwanzig!) EL84-Röhren, die vom Meister als klangvolle Hommage an seinen geliebten Zwölfzylinder-Jaguar-Motor im V-Winkel montiert wurden. Auch hat de Paravicini mit Sonderanfertigungen und Modifikationen für renommierte Tonstudios und Künstler alle Hände voll zu tun. Als kleine Fingerübung entwickelte er vor ein paar Jahren sogar – hier geht der wahre Glasfan durch die Hölle – riesige Transistor-Verstärker. (Wenigstens werden diese höchst auffälligen Sandburgen im Sumoringer-Format nicht unter dem EAR-Label, sondern direkt als Paravicini-Produkte angeboten. Zudem sind sie mit etlichen Schaltungsspezialitäten gespickt und sollen, so ist zu vernehmen, klanglich durchaus den Geist feiner Röhren atmen. Yep, der gute Ruf muss gewahrt bleiben …)

Wie es sich für einen Röhrenguru von Welt gehört, belässt Tim de Paravicini fertig entwickelte Komponenten etliche Jahre im EAR-Programm. Schnelle Modellwechsel oder Mk-irgendwas-Versionen sind seine Sache nicht. Dennoch ist es erstaunlich, dass die EAR 861 beinahe schon zehn Jahre produziert wird – das Schaltungsdesign stammt aus dem Jahre 1996 –, aber erst vor kurzem lohnenswerte Stückzahlen erreicht hat. Die meisten anderen Hersteller hätten wohl schon längst einen Schlussstrich gezogen. Was also ist dran an diesem HiFi-Schneewittchen, das fast eine ganze Dekade auf seinen audiophilen Weckkuss gewartet hat?

Hans Obels, Chef des Deutschland-Distributors EnVogue24, startet einen Erklärungsversuch. Er führt den späten Erfolg der – zumindest für EAR-Verhältnisse recht kostspieligen – 861 zum großen Teil auf eine neue Generation hochauflösender, feinst durchzeichnender Vorverstärker zurück. Die neue EAR 912 zum Beispiel sei mit ihrem extrem detaillierten Klangbild ein prototypischer und kongenialer Spielpartner zugleich. Will Hans Obels damit etwa andeuten, dass die 861 eher auf der betont runden Seite des Röhrenspektrums angesiedelt ist? Möglicherweise erst mit ausgesprochen hell und schlank abgestimmten Vorstufen zum optimalen Klangergebnis gelangt? Seine Antwort ist entwaffnend und fordert den Tester in mir doppelt heraus. Diese Endstufe, so Hans Obels, lege keinen besonderen Schwerpunkt auf Details, sie böte vielmehr ungemein relaxte Übersicht und genug Dampf für fast alle Eventualitäten. Sie sei damit „eine Endstufe zum Vergessen!“, sagt er und grinst hörbar. – Ein schöner Spruch. Bedeutet natürlich: anschlie­ßen, einschalten, Musik genießen, Technik vergessen. Und das mit einer Röhre. Die ansonsten ja sooo viel Aufmerksamkeit fordert. Schöne Aussicht.

Sieht man mal von der verchromten Front (außen) und diesen neumodischen Platinen (innen) ab, pflegt Tim de Paravicini klassisches spiegelsymmetrisches Dampflokdesign. Zwei ECC83 und sechs PCC88 sorgen in der Eingangs- respektive Treiberstufe für eine korrekte Signalverwaltung

Aller guten Dinge sind möglicherweise 16: Neben dem geradezu neumodischen 4-Ohm-Übertragerabgriff finden sich auch „neuzeitliche“ 8-Ohm- und sogar historisch korrekte 16-Ohm-Anschlüsse

Nach dem Trafo ist die Endstufe strikt kanalgetrennt aufgebaut, verfügt also auch über zwei Netzteile. Im Bild: eine der beiden fetten Siebdrosseln des 861

Stellwerk: Unsymmetrische oder symmetrische Ansteuerung ist ebenso möglich wie Monobetrieb. Der Eingangspegel lässt sich per Poti kanalgetrennt regeln

Esoteric Audio Research 861

Unkompliziertheit und Genussgarantie ge­hören sicherlich zu den besten Dingen, die man einer ambitionierten Musikmaschine nachsagen kann. Ausgesprochene Gourmets, die am liebsten in Klang, nein: in Musik schwelgen, beißen da im Reflex sofort an. Doch was macht die 861, wenn gerade keine supertransparente Elektronik zur Hand ist? Müssen wir eine ganze Ladung Details einfach in die Tonne treten und vergessen? Oder geht die Sache noch in Ordnung? Ist der Spruch womöglich nur eine gezielte Provokation des gewitzten Distributors? Ein gezielter Seitenhieb, um genau die Richtigen aus der Reserve zu locken? Denkbar wär’s, schließlich ist die High-End-Gemeinde leicht aufzuschrecken und keineswegs ein einig Volk, was den Weg zum Ziel, ja sogar das Ziel selbst betrifft. Bester Klang ist obligatorisch, das schon. Aber wie dieser nun zu erreichen, auf welche Schwerpunkte zu optimieren ist, wird gern und heftig diskutiert. Punktfixierten Fokus-Freaks kann es beispielsweise gar nicht detailfreudig und „durchsichtig“ genug sein, selbst wenn die tonale Balance schon Ähnlichkeiten mit einem optimalen Aktienkurs aufweist. Hart gesottene Kellerkinder beharren indes darauf, im Bass bis ans absolute Limit zu gehen, gern auch darüber hinaus. Vollbeschleunigte Räumlichkeitsfanatiker stehen esoterischen Emotionalisten diametral gegenüber, Stimmen-Fetischisten finden kaum einen gemeinsamen Nenner mit messschriebgierigen Linearitätsverfechtern. Und was in den Fan-Kurven von Borussia Sandburg und dem 1. FC Vakuum Glashütte skandiert wird, das folgt oft einer ganz eigenen Logik. Jawohl, auch innerhalb der HiFi-Szene sind gewisse Vorurteile bombenfest verankert.

Und die EAR 861 steht mittendrin. Ungerührt und unerschütterlich. Wartet auf musikalisches Futter. Schafft sie mit akustischer Unsichtbarkeit eine versöhnliche Lösung?

Von reiner Zauberei ist die EAR 861 zwar noch ein ganzes Stück entfernt. Aber auf ausgetretenen Wegen stapft die Endstufe auch nicht gerade. Die EL519-Bestückung allein ist schon exotisch, doch ihr „enhanced triode mode“ (ETM) setzt noch einen obendrauf. Diese wirklich außergewöhnliche Triodenschaltung für Pentoden wurde, logisch, von Tim de Paravicini höchstselbst entwickelt. Sein ETM nutzt Gitter 1 der Pentode nicht wie üblich zur Ansteuerung der Röhre, sondern verbindet es mit der Kathode. Das Signal läuft stattdessen über Gitter 2, während Gitter 3 ohne Einfluss auf das Klangergebnis sein soll, ob mit oder ohne Erdung. Diese nicht gänzlich unumstrittene Schaltungsvariante kombiniere, so der Meister, die Effizienz einer robusten Pentode mit der Linearität einer sehr guten Triode. ETM vermeide aber die Kompromisse, die ansonsten bei Pentoden in Triodenschaltung unvermeidlich wären. Zudem soll die Röhrenwahl unkritisch sein: Der optimale Betrieb hänge weder von aufwendig selektierten Röhren noch von regelbarem Ruhestrom ab. Und auf eine Über-alles-Gegenkopplung kann auch verzichtet werden. Im Prinzip verkörpert die EAR 861 die konsequente Weiterentwicklung des Modells 859, mit dem de Paravicini das ETM-Design erstmals realisierte. Nummer 861 ist die stärkere Push-Pull-Version und liefert pro Kanal über 30 Watt.

Apropos stark: Der Materialaufwand für die 861 ist EAR-typisch beträchtlich und vermittelt ein gutes Gefühl, vor allem nach dem Aufstellen. Das Kampfgewicht von satten 27 Kilogramm rührt zum Großteil von den drei Trafos her; ein einziger Übertrager bringt allein schon über fünf Kilo auf die Waage. Und Kunststoffteile findet man, wie immer bei EAR, höchstens im Inneren, beispielsweise um Platinen abzustützen oder für andere zweitrangige Aufgaben. Was hier wie Metall aussieht, ist auch Metall. Ob das alles zusammen eine unwiderstehliche Schönheit ergibt, diese Einschätzung überlasse ich gerne Ihnen, liebe Leserinnen und Leser.

Die in riesigen Stückzahlen hergestellte PCC88 ist eine alte UKW-Doppeltriode. Tim de Paravicini setzt sie – nicht nur – in der Treiberstufe seiner EAR 861 ein

Die EL519 war als zuverlässige Fernsehröhre bekannt, heute sorgt sie für die satte Power der Endstufe. Gut zu erkennen: der oben liegende Anodenanschluss

Funktionalität und Ergonomie der 861 sind jedenfalls rundherum tadellos. Ich persönlich habe nur drei winzige Details zum Mäkeln entdeckt. Erstens: Die Chromabdeckungen der beiden Ausgangsübertrager besitzen sechs Bohrungen, werden aber nur von vier Schrauben fixiert. Das hält natürlich trotzdem bombig, wirkt aber doch ein kleines bisschen unfertig. Zweitens: Der Druckknopf zum Ein- und Ausschalten sitzt hübsch zugänglich ganz unten rechts auf der Front – das heißt, eigentlich sitzt er in der Front. Was auch im OFF-Zustand irgendwie ON aussieht. Meine Vermutung ist, dass Paravicini ursprünglich eine halb so dicke Frontplatte verwendete, und es wäre nicht das erste Mal, dass er nun schlichtweg keine Lust hat, den Schalter an das deutlich massivere Chrom-Panel anzupassen. Motto: Ein bündig mit der Front abschließender Schalter hat nichts mit dem Klang zu tun, kann nicht versehentlich gedrückt werden. Außerdem ist der Knopf im Betrieb ja illuminiert … Drittens: Die Füße der 861 dürften für athletische Dickfinger wie die des Autors ruhig ein kleines bisschen höher ausfallen, um die Endstufe besser anheben zu können. Aber allzu viele Ortswechsel sind im richtigen Leben – ohne Fotografentermine und rotierenden Einsatz in verschiedensten Anlagen – eher unwahrscheinlich. Sobald dieses Trumm einmal Platz genommen hat, spielt es ja am liebs­ten Immobilie.

Und Musik natürlich! Ohne Wenn und Aber. Ohne Transistoren. Und tatsächlich ohne technischen Beigeschmack. Wobei an der vorgeschalteten Elektronik natürlich keinesfalls gespart werden sollte. Die goldene Regel, dass wer Schrott verfüttert auch Schrott erntet, kann auch EAR nicht ohne Weiteres außer Kraft setzen. Ob allerdings tatsächlich nur „hochauflösende“ Komponenten den Weg zum hifidelen Glück aufzeigen, sei dahingestellt.

Der erste Eindruck in der Praxis ist jedenfalls auch mit guten „normalen“ Zuspielern äußerst positiv. Die 861 marschiert macken- und makellos voran, agiert musikalisch wendig und dynamisch willig. Auch bewahrheitet sich wieder mal die etwas lässige Umrechnung, dass ein Röhrenwatt durchaus mit drei bis fünf Transis­torwatt konkurrieren kann, so kraftvoll und ungebremst geht die Maschine zur Sache. Um die Leistungsreserven dieser Endstufe wirklich bis zur Neige auszuschöpfen, braucht es schon unpassende, ineffiziente Schallwandler, einen beherzten Griff zum Lautstärkeregler und schwere musikalische Kost.

Im grünen Bereich bewegt sich die EAR mit adäquaten Lautsprechern. Ab einem mittleren Wirkungsgrad, sagen wir knapp unter 90 Dezibel, zeigt sie volle Qualität. Und die Odeon Rigoletto oder gar meine Dynavox 3.2 (je acht Ohm, 93 bzw. 97 Dezibel, schlanke Weichen) sind nichts weniger als gefundenes Fressen für dieses flinke Kraftpaket aus England. An solchen Kandidaten liefert die 861 mehr als genug Power, um bei Bedarf kräftig Sofa und Wände wackeln zu lassen. Auf der anderen Seite der Skala kann die EAR an so empfindlichen Lautsprechern zeigen, wie störgeräuscharm sie funktioniert und wie locker sie mit kleinen und kleinsten Pegeln umzugehen versteht – für meine Begriffe absolute Grundvoraussetzungen für wahren High-End-Genuss.

Einladend ist auch die vielseitige Ausstattung der 861, die zum Experimentieren verlockt. Für eine Ansteuerung mittels dreipoliger XLR-Kabel scheint die spiegelsymmetrisch aufgebaute 861 ja ohnehin prädestiniert, wenngleich der Anschluss per Cinchkabel zumindest in meiner – eher unsymmetrisch ausgelegten – Anlage genauso gut klingt. Die beiden Anschlüsse sind mit einem stabilen Kippschalter auf dem bedienungsfreundlich angeschrägten Panel auf der Rückseite anwählbar. Ein zweiter Kippschalter gleich daneben verwandelt die stereofone EAR 861 auf Wunsch in einen mächtigen Mono-Block. Das verdoppelt glatt die Ausgangsleistung – aber auch die Inves­titionssumme, denn ein zweites Exemplar gibt es leider nicht gratis dazu. Wer’s also wirklich braucht, der greife zum Zwilling und zahle; ich hingegen komme mit der serienmäßigen Stereopower bestens zurecht. Echten Komfort bieten die beiden Eingangspegelsteller, mit denen sich die Endstufe an unterschiedlich „laute“ Signallieferanten anpasst. Meine Shindo-Vorstufe beispielsweise gehört eindeutig zu den lauten Vertretern ihrer Art; ohne ein derartiges Feature ist „normaler“, nachbarschaftsfreundlicher Betrieb nur eingeschränkt möglich. Mit dieser „Lautstärkeregelung“ taugt die 861 aber auch als zentraler, zugegeben etwas exzentrischer Baustein einer puristischen Anlage. Sind ihre beiden Pegelsteller ohne Verrenkungen zugänglich, wird die EAR mit ein biss­chen Fantasie zum „Vollverstärker“ mit zwei Eingängen, vorausgesetzt man kann XLR- und Cinch-Eingang sinnvoll belegen.

Ob im Mono-Doppelpack für Bäumeausreißer, als ganz normale Stereo-Endstufe für Genießer oder als minimalistische Schaltzentrale für Freaks – die EAR 861 macht in jedem Fall eine gute Figur, musikalisch wie technisch. Nach den üblichen Test-Klassikern quer durch alle Musikstile steht für mich fest, dass sie einfach alles „kann“. Stilistische Präferenzen sind nicht erkennbar, und so hab ich’s persönlich am liebsten. Große Orchester – klassisch-ernst in der Philharmonie oder entfesselt swingend im Cotton Club – besitzen Wucht, Macht und Attacke, ein reueloser Genuss für Dynamikfans. Wer’s nicht weiß, tippt angesichts des trocken federnden, straffen Fundaments wohl kaum auf einen Röhrenverstärker, wird womöglich die sagenhafte Homogenität des Klangbildes preisen … Tja, eine gute kräftige Röhre wie diese hat mit Weicheiertum, von harten Sandmännern den Luftleeren prinzipiell unterstellt, nichts am Hut. Gar nichts.

Streicher, Holz, Blech und Schlagwerk stehen vielmehr fest umrissen im Orchesterapparat, spielen mit viel Luft drumherum und atmen frei, bleiben gleichwohl präzise integriert. Große Chöre und massive Orgelpassagen, etwa in Gabriel Faurés Requiem, kommen über die 861 mit überwältigender Kraft. Und die jazz­orientierten Bigbands – unter der Führung von Buddy Rich, Brian Setzer und Charles Mingus – schaufeln dermaßen Energie in den Raum, dass kein Auge trocken bleibt. Pointierte Bläsersätze in den treibenden Funk-Perlen von Saxophon-Koryphäe Maceo Parker, aber auch das fantastische Blechwerk von Mnozil Brass, den Spaß-Virtuosen aus Österreich, erstrahlen in toller Sonorität und mehrschichtigem Glanz. Barocke Ensembles zeichnen präzise, griffige Konturen, Instrumente und Stimmen nehmen mit klaren, leuchtenden Klangfarben gefangen. Die EAR macht dabei natürlich kein Geheimnis aus den Klangvorstellungen der jeweiligen Tonmeister; ausgezeichnete Produktionen von Decca oder MDG klingen definitiv gehaltvoller und involvierender als DGs aus der frühen Digital-Ära.

Dicker Strich und wummiger Weichzeichner? Ist mit der 861 wirklich nur zu haben, wenn es die Aufnahme hergibt. Der Amp hält sich präzise an die Vorgaben seiner Zuspieler, kann weit oben mit scharfer Klinge operieren, ohne je weh zu tun, kann weit unten kraftvoll zupacken, ohne blaue Flecken zu hinterlassen, und bietet von den saftigen Grundtonlagen bis hinauf in feine Präsenzen eine fabelhafte Einheit, die weder räumlich ausfranst noch in irgendeiner Weise zu klein wirkt.

Und warum Ry Cooder, Lenny Kravitz und Pink Floyd zur zahlenden Klientel de Paravicinis gehören, wird klar, sobald man deren bessere Aufnahmen über die 861 hört: EAR-Equipment hat das gewisse Etwas, das wohl nur gute Röhren besitzen, eine faszinierend leichtfüßige Gratwanderung zwischen Fülle und Definition, eine Kombination aus innerer Kraft und farbenprächtigem Feingeist. Die 861 hat dazu immer noch eine Extraportion Dampf in petto, um bei Bedarf blitzschnell noch ein bis zwei Briketts nachlegen zu können. Ja, das gefällt auch dem Rock-’n’-Roll-Freund – dem ich an dieser Stelle ausdrücklich zu Lautsprechern mit genügend hohem Wirkungsgrad und kompetentem Bass rate, um sodann mit der EAR aus dem Vollen schöpfen zu können.

In einem Punkt muss ich Hans Obels übrigens noch zustimmen. Nummer 861 kann, sofern man besonderen Wert darauf legt, von betont detailfreudigen Zuspielern profitieren. Unter diesem Aspekt betrachtet gibt es sicherlich Endstufen, die von Haus aus mit noch klareren Mittenlagen und stärkerem Schwerpunkt auf ätherischer Raumaufdröselung dienen können. Die werden allerdings in anderen Disziplinen gegenüber der Britin deutlich zurückstecken müssen. Also, ist die EAR 861 nun eine „Endstufe zum Vergessen“ oder nicht? – Aber klar doch! Und das hat einfach Klasse!

Geräteinformation

Röhrenbestückung: 2 x ECC83, 6 x PCC88, 4 x EL519

Leistung (Herstellerangabe): 2 x 32 Watt, gebrückt 1 x 64 Watt

Eingang: 1 x symmetrisch (XLR), 1 x unsymmetrisch (Cinch)

Ausgänge: Lautsprecherklemmen mit Trafoabgriffen für 4, 8 und 16 Ohm Lastimpedanz

Besonderheiten: kanalgetrennt regelbare Eingangspegel, Kippschalter für Eingangswahl und Mono-Brückenschaltung; „Enhanced Triode Mode“ (ETM)

Maße (B/H/T): 42/19/45 cm

Gewicht: 27 kg

Garantiezeit: 24 Monate

Preis: 7150 Euro

Kontakt

www.envogue-24.de