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Ein paar Anmerkungen zum Thema Röhren

Text von: Roland Kraft

Die Fähigkeit zur Selbstreflexion sollte jedem, der vom Sammeltrieb infiziert ist, erhalten bleiben. Andernfalls muss man sich vertrauensvoll an einen Arzt wenden. Stoßen Sie bei ihm auf eine bis 1892 zurückreichende Bierdeckel-Kollektion oder beispielsweise etwa 1500 Matchbox-Autos, dann dürfen Sie sicher sein, sich in den richtigen Händen zu befinden …

Warum ausgerechnet luftleere elektronische Bauelemente jeder Art eine so große Faszination auf mich ausüben, kann ich Ihnen leider nicht schlüssig erklären. Und überhaupt habe ich keinesfalls vor, mich für den Spleen zu entschuldigen. Ich war jedenfalls schon im zarten Alter von neun Jahren – damals baute ich mithilfe einiger Kosmos-Experimentierkästen meine ersten elektrischen Spielsachen zusammen – nicht in der Lage, eine Röhre wegzuschmeißen, selbst dann nicht, wenn sie geprüftermaßen defekt war. Die Gerüchteküche der Familie behauptet aber, mir sei als Kleinkind ein (Röhren-)Radio auf den Kopf gefallen, weil ich hartnäckig am Netzkabel zog. Was nicht nur eine Erklärung für die Röhrensucht, sondern womöglich auch für den HiFi-Bazillus darstellen könnte. Übrigens erfordert beides eine ungeheuer verständnisvolle, extrem tolerante Lebenspartnerin, die über Verhaltensauffälligkeiten großzügig hinwegsieht! Falls Sie sich ebenfalls für Röhren interessieren sollten – wovon ich dringend abrate! –, habe ich hier ein paar wertvolle Tipps für Neueinsteiger.

Aus der Röhren-Frühzeit während des ersten Weltkriegs: Als „Stromverstärker“ bezeichnete, direkt geheizte Triode mit horizontalem System, die schon modern anmutend mit vier Kontakten in eine Fassung gesteckt werden konnte

Warum man Röhren sammeln sollte:

  1. In einer technoiden und vorwiegend an seichter Unterhaltung orientierten, völlig oberflächlichen Gesellschaft widmen Sie sich einem bewahrenden, museal ausgerichteten Retro-Style-Hobby.
  2. Da Sie sich nicht für Sport, Autos oder Aktien begeistern, sondern „Glühbirnen“ in Vitrinen stapeln, wirken Sie auf – manche – Frauen interessant.
  3. Die Röhren-Preisentwicklung der letzten 20 Jahre lässt andere Anlagemöglichkeiten vergleichsweise alt aussehen.
  4. Sie sind (auf Wertstoffhöfen, Flohmärkten und Beerdigungen ehemaliger Telefunken-Lageristen) viel unterwegs und an der frischen Luft.
  5. Sie haben die Möglichkeit, mit interessanten Persönlichkeiten wie etwa den Bewachern von Elektroschrott-Containern zu kommunizieren.
  6. Sie entwickeln eine gesunde Immunität gegen uralten Staub, Papiermilben und neuzeitliche Unterhaltungselektronik.
  7. Sie trainieren soziologisch nützliche Verhaltensweisen wie etwa Überreden, Lügen, Vortäuschen von Uninteressiertheit und das Stellen dummer Fragen.
  8. Sie erschweren den Ausverkauf historischer Artefakte in Länder, die uns mit Music-Servern, PC-Spielen und Digitalkameras zu­müllen, um unbemerkt an genau jene Artefakte zu gelangen.
  9. Sie hüten unersetzbare Technologie, die nach dem unvermeidlichen Zusammenbruch der Microsoft-Zivilisation eine neue Aufbauphase einleiten wird.

Warum man keinesfalls Röhren sammeln sollte:

  1. Röhrensammler wirken auf Mitmenschen skurril, geistig abwesend und bisweilen melancholisch.
  2. Sie haben nichts von der Preissteigerung, weil Sie mental nicht imstande sind, völlig uninteressante, geschweige denn echt wertvolle Stücke zu veräußern.
  3. Wer kopfüber im Elektroschrott-Container hängt, gilt gesellschaftlich als „schwierig“ und gefährdet damit seine Kreditwürdigkeit, seinen Job und seine zwischenmenschlichen Beziehungen.
  4. Sie neigen zu Depressionen, weil Sie feststellen, dass Sammlerkonkurrenten das Mehrfache Ihres Jahreseinkommens in Röhren investieren können.
  5. Sie ertappen Angehörige und Freunde dabei, wie sie mit besorgten Gesichtern Ihren Gesundheitszustand diskutieren.
  6. Wer obskure Publikationen wie Vacuum Tube Valley, Glass Audio, Regeneration von Gnom-Röhren oder Telefunken-Laborbücher verschlingt, neigt zu Tagträumerei und wird überdies als außerstande betrachtet, Hunde oder gar Kinder zu erziehen.
  7. Häufige Besuche von Funker- und Radio-Flohmärkten führen zu bedenklichen Verhaltensweisen im Umgang mit älteren Mitmenschen sowie zu finanziellen Problemen.
  8. Aus Dachböden und Müllkippen exhumierte 70-jährige Radios stinken längere Zeit und gehören übrigens auch nicht ins Schlafzimmer.
  9. In frühzeitlichen Röhrenschachteln lauern Krankheitskeime, die heutzutage als ausgemerzt gelten und nicht mehr behandelbar sind.
  10. Intensive, als therapeutisch wertvoll geltende Zwiegespräche sind nur noch mit Patienten möglich, die eine ähnliche Symptomatik wie Sie selbst aufweisen.
  11. Bei einigen Sammlerkollegen wurden – ähnlich wie bei HiFi-Freaks – selten auftretende Formen von Autismus, unangepasstes Sozialverhalten, Ess- und Sprachstörungen sowie Silizium-Allergie beobachtet.
  12. Es wird immer Typen geben, die offenbar Tag und Nacht nichts anderes machen und deshalb fünfmal so viel Röhren besitzen wie Sie.
  13. Last but not least: Sie nehmen anderen Sammlern, unter anderem mir, für das seelische Wohlbefinden dringend benötigte Stücke weg.

USA: Radio-Frühzeit auf dem Land. Kleine Batterie-Empfänger, die lange Hochantennen benötigten und Kopfhörer versorgten, arbeiteten mit lediglich einer Röhre. Im Deckel die Bedienungsanleitung für Farmer

Anfang der 30er Jahre: Telefunken 340W mit dem Spitznamen „Katzenkopf“. In dem chrarakteristischen Telefunken-Stern dreht sich eine beleuchtete Skala. Damals benutzte man externe, hochohmige Lautsprecher

In den 20er Jahren baute man so genannte Truhenradios. Dieses mit vier Röhren bestückte Exemplar namens „Hans Sachs“ entstammt den Lumophon-Werken, Nürnberg. Die Firma wurde 1951 von Grundig übernommen

Wo findet man Röhren?

  1. Ausgrabungen in ehemaligen Wehrmacht-Standorten (Sendeanlagen, U-Boot-Bunker, Keller alter Verwaltungsgebäude, Bergwerksstollen, Munitionslager etc.) sind mühselig, verboten und meist nicht lohnend. Andere waren nämlich vor Ihnen da.
  2. In Radiogeschäften, die ihr 50-jähriges Jubiliäum hinter sich haben, frage man nach dem „Meister“. Da der im Regelfalle bereits verstorben ist, sind Sie mit ignoranten Erben konfrontiert, die sich weigern, Dachboden und Keller zugänglich zu machen.
  3. Kleinanzeigen in örtlichen Käseblättern: Sie stoßen auf quietschlebendige Witwen, die glauben, eine PCC88 entspräche dem Wert einer Jahresrente.
  4. Firmen und Konzerne: Sind meistens stolz darauf, sich der Altlasten schon lange entledigt zu haben. Hätten Sie sich – wie ich – bereits vor 25 Jahren als Werkstudent mit Entsorgungsaufgaben verdingt, sähe die Sache freilich ganz anders aus …
  5. Wertstoffhöfe: Die örtlichen Kapos sor­tieren vorher aus und verschachern die Ra­ritäten an Leute, mit denen langfristige Abma­chungen getroffen wurden – zum Beispiel an mich.
  6. „New Old Stock“-Röhrenhändler: Setzen präzise jenen Preis an, den ein gut gelaunter röhrensüchtiger Ölscheich bezahlen würde.
  7. Floh- und Antiquitätenmärkte: Mit ein bisschen Glück stoßen Sie auf eine zerknautschte ECC81 für einen Euro. Der Test ergibt natürlich, dass die Röhre mausetot ist. Mit weniger Glück wird Ihnen ein 20-jähriger Vollidiot ein UKW-Stereo-Röhrenradio als mittelalterliche Antiquität aufschwatzen wollen.
  8. Funk- und Radio-Flohmärkte: Falls Sie doof sind und einräumen, die Röhren für (HiFi-)Verstärker zu benötigen, kriegen Sie von den anwesenden Radio-, Röhren- und Militaria-Händlern gar nix oder nur Schrott zu überhöhten Preisen. Sammler-Profis sind selber Händler und machen die Deals eine halbe Stunde, bevor die Veranstaltung eröffnet wird.
  9. eBay: Sie werden von schwerreichen Sammlern, japanischen Röhrenvertrieben und den Bossen taiwanesischer Computerkonzerne überboten.
  10. Fragen bei Verwandten, Bekannten und Kollegen: Erbringt einen Schuhkarton voll defekter Fernsehröhren, die Opa 1964 anlässlich des Besuchs eines TV-Schnellreparaturdienstes aufgehoben hat. Weil Sie vorher immer geschwätzt haben, wie teuer Röhren sind, müssen Sie ein Essen für den Müll ausgeben.
  11. Alte Amateurfunker: Sie bekommen die Röhre geschenkt, wenn Sie beweisen, dass Sie praktisch täglich 1500-Volt-Netzteile bauen und außerdem fließend morsen können.
  12. Sammler-„Kollegen“: Nennen nur ausgetrocknete Quellen. Für echte Hinweise müssen Sie aus der frustrierten Strohwitwe herausquetschen, wo sich ihr Mann jedes Wo­chenende herumtreibt.
  13. Haushaltsauflösungen, Sterbefälle und Altenheime: Sie kriegen das 1935er Radio, wenn Sie bereit sind, sich drei geschlagene Stunden plus vier Stücke trockenen Kuchen lang Geschichten über anno 33 bis 45 (niemand war je dabei), die heutige Jugend (der geht es viel zu gut!) und Helmut Kohl (der Beste!) anzuhören.
  14. Elektronik-Surplus-Händler: Sie finden eine ECL-Sonstwas aus rumänischer Fertigung und bestellen vor lauter Verzweiflung einen 40-Kilo-Röhren-Oszi zum Ausschlachten.
  15. HiFi-Händler: Läden mit offenkundigem Röhren-Know-how sind keine schlechte Adresse, wenn es um moderne Verstärker geht.
  16. Ausland: Die entsprechende Steuerung des Jahresurlaubs gehört zum Standardrepertoire. In Ländern wie etwa Russland oder Marokko kommen Sie mit Nylonstrümpfen und alten Playboy-Ausgaben inzwischen nicht mehr weit – harte Euros sind angesagt.
  17. Typen, die in Werbeagenturen oder bei Privatsendern arbeiten und vor einem Jahr noch nicht einmal wussten, wie man „Röhre“ schreibt: Schwafeln von einem Eisenbahn­waggon voller Telefunken-Kartons, der bis vor kurzem auf einem Siemens-Werksgelände festgerostet war und via Handy-Auktion nach Tokio ging.

Den Nachwuchs begeistern

Da Sie natürlich wollen, dass die Sammlung nach Ihrem Tod weiterhin gepflegt wird, gehört es zum guten Stil, sich frühzeitig um den Nachwuchs zu kümmern. Außerdem gilt es zu verhindern, dass Ihre unwissenden Zöglinge eine 300B in die Fassung der Küchenlampe würgen. Machen Sie klar, dass es sich um ein höchst empfindliches elektronisches Bauteil handelt, mit dem sich, besäße man ungefähr 350000 Stück davon, locker ein Handy bauen ließe. Die junge Generation muss freilich richtig auf den Geschmack gebracht werden, was am einfachsten dadurch gelingt, dass Sie ganz nebenbei ein paar Worte über den Wert der Glasgegenstände fallen ­lassen. Die vom modernen Bildungssystem bereits auf Gewinnmaximierung getrimmten Kleinen wittern deshalb sofort ein feines Schwarzgeldgeschäft, das deutlich mehr einbringt als der Verkauf verbotener PC-Spiele auf dem Schulhof. Darüber hinaus lohnt es sich, ein paar ausschmückende Marketinggeschichten einzuflechten, so etwa die alte Story, dass ein Mann namens Hannibal die Teile erster röhrenbestückter Großrechner noch mit Elefanten über die Alpen transportiert habe, was bereits tausende Jahre vor GATES geschehen sei. Dessen Propheten ZUSE und ENIAC hätten in der darauffolgenden Zeit die PCs stetig weiterentwickelt und damit das Erscheinen von GATES vorbereitet. Und obwohl Sie auf ungläubiges Staunen stoßen dürften, sollten Sie überdies erzählen, dass steinzeitliche System-Jünger wie etwa COMMODORE oder ATARI noch ganz ohne WINDOWS® auskommen mussten, zudem uralte schwarze Vinyl-Festplatten benutzt hätten, genau solche, wie Sie sie auch in Ihrer Sammlung stehen hätten. Besagte Festplatten könnten unschätzbare Informationen über den jungen GATES enthalten, wie man ja im NETZ immer wieder nachlesen könne. Wer sie gar anschließen wolle, müsste zudem über eine heutzutage völlig unbekannte Schnittstelle namens RIAA verfügen, deren Baupläne während der GATES sei Dank erfolglosen McIntosh-Revolution verloren gegangen seien …

Nach dieser für junge Menschen durchweg überzeugenden Geschichte dürfen Sie sicher sein, dass Ihr Erbe erst nach der Digitalisierung weggeschmissen wird!