Error icon

Keine Berechtigung! Sie werden zum Login weitergeleitet...

Science-Fiction-Sounds

Text von: Hans-Jürgen Schaal

In seiner Jugend träumte sich unser Autor gerne weit weg in kosmische Welten. Solche neuronalen Trips durch die Galaxis gelangen damals am besten mithilfe von Musik. Der Rock und Jazzrock der Siebzigerjahre erwies sich als der ideale Weltraumhafen für interstellare Expeditionen.

In den Sechzigerjahren stand es beinahe noch in jedem Wohnzimmer: das Röhrenradio mit hölzernem Gehäuse und stoffbezogenem Lautsprecher. Als Kind stellte ich mir manchmal vor, dass all diese Radios heimlich miteinander kommunizierten. Aber eigentlich glaubte ich das doch nicht. Ich glaubte auch nicht den Legenden, dass das „magische“ Auge der Radios ein wirkliches Auge sei, womöglich das Auge eines darin lauernden Zaubertiers. Ebenso wenig glaubte ich an die kleinen Märchenleute, die angeblich im Inneren des Radios saßen, um dort die Nachrichten und die Musik hervorzubringen. Denn mir war früh schon klar, was uns die Senderanzeige mit Namen wie „Hilversum“ und „Beromünster“ sagen wollte, schließlich blätterte ich ja mit Begeisterung im Weltatlas. „Radiosignale aus dem Äther“: Das klang für mich viel, viel aufregender als alle Märchen von klingender Zaubermagie.

Auch dass in den Schellack- und Vinyl-Schallplatten der Eltern winzige Sänger und Orchester stecken sollten, die man da irgendwie hineingezaubert hatte, fand ich immer eine kindische Vorstellung. Die Kreisform und die Kreisbewegung der Schallplatte erschienen mir vielmehr als eine sehr erwachsene, technische Botschaft des Universums. Wurden nicht auch UFOs als „kreisrunde Scheiben“ beschrieben? Drehten sich nicht auch die Planeten um sich selbst? Hatten nicht auch die Sputniks und Mercurys Umlaufbahnen? Konnte man nicht im Schwarz des Vinyls, wenn das Licht richtig darauf fiel, alle Farben des Spektrums erkennen? Manchmal stellte ich mir vor, das Plattenetikett sei eine Kugel, ein Planet, und die Schallplatte eine Art Saturnring. Das Design von Tonarmen erinnerte mich sowieso grundsätzlich an Raumschiffe.

Raumschiffe beschäftigten mich in der Tat schon früh und dauerhaft. Wenn wir in der Grundschule nach der Fantasie zeichnen und malen durften, bevölkerten Gemini-Kapseln den Himmel meiner Bilder. Als Siebenjähriger löcherte ich meine Eltern, damit ich keine Folge von „Raumpatrouille“ verpasste. Ziemlich verständnislos saßen dann die Erwachsenen vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher, während ich mit dem schnellen Raumkreuzer Orion zielstrebig die Planetoiden Chroma und Mura ansteuerte. Ich litt mit bei der Apollo-1-Katastrophe, ich bangte um das Leben der Apollo-8-Crew während ihrer Mondumkreisung. In den Weiten des Weltraums verschmolzen NASA-Realität und erfundene Zukunft.

Ich bin darüber keineswegs zum Technik-Freak geworden. Mich faszinierte immer nur die Unendlichkeit der Fantasie: ferne Welten, futuristische Wirklichkeiten, das ganz andere, das „Was-wäre-wenn“, eine Hirnflucht ins Freie. Und Schallplatten gehörten da von Anfang an dazu, auch Wörter wie Rotation, Welle, Spektrum. Je fremdartiger, je unalltäglicher die Klänge waren, die aus dem Lautsprecher kamen, desto mehr überzeugte mich eine Platte. Elektrische Gitarren und Bassgitarren, elektrische Orgeln und Fender Rhodes, die frühen Synthesizer, Theremin und Ringmodulator, auch bestimmte Bläsermischungen: Das klang für das Kind und den Jugendlichen nach kosmischer Schwingung. So etwas hörte man auch in Science-Fiction-Filmen. In der Musik war die Zukunft längst da. In ungewohnten Klängen wurde die Welt galaktisch und anders. Schallplatten machten die Struktur des Universums hörbar. Es war eine fast religiöse Erfahrung.

Natürlich war ich nicht der Einzige, der damals von Science Fiction inspiriert wurde: von Parapsychologie, Zeitreise-Visionen, Fantasy-Welten, UFO-Sichtungen, den Mondflügen, aber auch negativen Zukunftsutopien. Nicht zuletzt die Musiker spürten überall die Vibrationen kommender und paralleler Wirklichkeiten – oder halfen notfalls mit Drogen nach. Wer als Plattenkäufer ständig neue, elektrische Sounds suchte, landete in den frühen Siebzigern immer wieder in Science-Fiction-Welten und Zukunftsvisionen. Nicht umsonst stürmte zeitgleich mit der ersten Mondlandung (Sommer 1969) der Song „In The Year 2525“ die Hitparaden: „Everything you think, do or say / is in the pill you took today.“

Einfach nur fort!

Die erste Rockband, die ich live hörte, hieß übrigens Ten Years After. Das übersetzten wir uns damals mit „Heute in zehn Jahren“. Denn die Zukunft war ein brennendes Thema, verheißungsvoll und bedrohlich zugleich. Die Mondflüge, die Angst vor einem Dritten Weltkrieg, das Aufkommen der Computer und der erste Bericht des Club of Rome kollidierten in der Gegenwart. Die deutsche Band Birth Control orakelte pessimistisch, „what the future has in store for the human race“. Bei Black Sabbath suchten Raketen im All nach dem Guten, während die Erde der Umweltverschmutzung und der Herrschaft Satans anheimfiel. Dagegen fühlte man sich bei Yes aufgehoben in einer kosmischen Gemeinschaft, reiste mit dem „Astral Traveller“ oder dem „Starship Trooper“ durchs All und fand sich in Landschaften wieder, die nicht von dieser Welt waren.

Auch bei einer Band, die sich UFO nennt, musste es natürlich immer wieder um galaktische Liebe und fliegende Untertassen gehen. Genesis erzählten dagegen von aggressiven Riesenpflanzen („Giant Hogweed“), einem verwüsteten Planeten („Watcher of the Skies“) oder einer genetischen Kontrolle der menschlichen Körpergröße („Get ’Em Out By Friday“). Rush berichteten von der Sternenstadt Megadon im Jahr „2112“, bei Ekseption startete die Bettlerin Julia zum „Time Trip“, The Flock belauschten den „Uranian Sircus“ und die „Rocky Horror Picture Show“ erfand den Tanzschritt des „Time Warp“. Auch Beggars Opera wiesen meiner Fantasie die galaktische Richtung: „Away from the world and all its cares… Away, across to Mars like shooting stars… Beyond this universe, infinite space...“

Ich verschlang damals nicht nur Bücher über Weltraumfahrt und Zukunftsstädte, sondern meterweise Science-Fiction-Literatur amerikanischer, britischer, russischer und deutscher Autoren. Da ging es ständig um Parallelwelten, Zeitsprünge, gesellschaftliche Utopien. Solche Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten geisterten auch durch die Konzeptalben von Alan Parsons Project, während sich Rick Wakeman sogar direkt von Jules Verne inspirieren ließ („Journey To The Centre Of The Earth“). Die Glam-Rocker trugen sogar Astronauten-Anzüge. Und selbst Jethro Tulls Ian Anderson sang ein Lied über die Raumfahrt: „I’m with you, L.E.M.“, heißt es darin im Namen des Apollo-Piloten Michael Collins. Die Apollo-Generation wusste natürlich, dass L.E.M. die Abkürzung für „Lunar Excursion Module“ war.

Das Medium Schallplatte, die Welt der Mondflüge, die Visionen der Science Fiction und die Sounds der Rockmusik – alles wurde irgendwie eins. Eine Platte auflegen war gleichbedeutend mit einem Countdown zum Trip ins All: Die schwarze Scheibe mutierte vollends zur fliegenden Klang-Untertasse. Planetenlandschaften, Spiralnebel und nächtliche Sternenhimmel eroberten zunehmend die Plattencovers. Ein glühender Sonnenuntergang wirkte nicht länger romantisch, sondern kosmisch. Fabelwesen entstammten nicht mehr dem Märchen, sondern sicherlich einer fernen Galaxis, einer fernen Zukunft oder einer mit der Zeitmaschine erforschten fernen Vergangenheit. Die Rockmusik der frühen Siebziger wurde zu meiner ganz persönlichen Saturn-V-Trägerrakete.

Hörraumflüge

Die Band Pink Floyd war da schon bekannt für ihre kosmisch-psychedelische Schlagseite. Stücktitel wie „Astronomy Dominé“ und „Interstellar Overdrive“ starteten bereits auf der Debüt-Platte unmissverständlich in Richtung Milchstraße. Klar, dass A Saucerful Of Secrets, der Titel des zweiten Albums der Band, nur auf die interstellaren Geheimnisse einer fliegenden Untertasse anspielen konnte. Erschienen ist das Album nur vier Monate vor dem ersten bemannten Apollo-Flug. Aber weder Plattencover noch Albumtitel, sondern die Musik selbst war für mich der Trip in den Weltraum. Das Titelstück führte mich quer durch die Galaxis, durch rotierende Partikelstürme der Gitarren und wechselnde Quantenspektren der Farfisa-Orgel. Es war eine der ersten Hörerfahrungen, die mich auf die spätere Entdeckung des Freejazz vorbereiteten. In dem 12-minütigen Stück gibt es weder Gesang noch ein Motiv, nur in der Mitte eine ostinate Schlagzeugfigur und hinten raus etwas hymnische Feierlichkeit von kosmischer Tragweite. Der Rest ist unidentifiziertes, fliegendes Sound-Experiment, elektrisch und futuris­tisch. Kurzausflüge in den Orbit finden sich auch in den anderen Stücken des Albums, vor allem in „Set The Controls For The Heart Of The Sun“ und „Let There Be More Light“, wo kosmische Mächte ein Feuerschiff zur Erde senden. Als ich diese lichtschnellen Klänge entdeckte, siedelten Pink Floyd übrigens bereits auf der dunklen Seite des Mondes.

Direkt vom Himmel gefallen schien auch die britische Band mit dem deutschen Namen Nektar. Legendär waren ihre psychedelischen Slide-Lightshows, die dich mit oder ohne Joint an den Rand des bekannten Universums beförderten. Ihr drittes Album spielte schon im Namen (Remember The Future) auf ein damals populäres Buch von Erich von Däniken an: Damit war die Brücke zwischen Urzeit und Außerirdischen geschlagen, Fantasy war Zukunft, Märchen wurden kosmisch. Ob da nun ein Alien namens Bluebird die Erde besuchte oder ob Nektar anderswo von „waves of thought“ und „plastic lives“ sangen: Der Raum futuristischer Fantasie kannte keine Grenzen. Auf dem Album Journey To The Centre Of The Eye hat die Band den Science-Fiction-Impuls am konsequentesten in kosmische Tonschwingungen übersetzt. Im „Prelude“ vernetzen sich Gitarrenkometen mit Orgelspiralen zur Space-Vision. Ziemlich genial geriet die klangliche Umsetzung eines Hyperspace-Flugs in „Warp Oversight“: Der zeit- und raumlose Zustand scheint die Dimensionen widersinnig ineinander zu verschieben… klirrende Flächen, rätselhafte Glissandi, pochendes Nichts… das Wabern der Quanten! Nicht nur das große Auge auf dem Albumcover ließ an Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ denken, auch die Geschichte, die Nektar erzählen, ist daran angelehnt. Das war vertrautes Fantasie-Gelände, der Heimatboden meiner kosmischen Träume.

Sogar die Straight-Rocker von Deep Purple kamen an den interstellaren Schwingungen der Zeit nicht vorbei. Bekanntlich erfanden sie sogar das „Space Truckin’“ zur Venus, zum Mars und weiter zum Polarstern: „We got music in our solar system, we’re space truckin' round the stars“. In der Regel ging es in ihren Texten zwar um „Girls Girls Girls“, aber das schließt ja grundsätzlich außerirdische Varianten nicht aus, wie der Song „Fireball“ zeigte: Der „Feuerball“ war nicht nur eine Metapher für die Angebetete („Your lips are like a fire“), sondern verriet auch ihre exotische, außerirdische Herkunft („Where you’re from, it’s a long way“). Mehr als die Texte wiesen aber die Klänge und Stimmungen des Albums Fireball ins Fantastische: Keine andere Platte der Band bietet so viele überraschende Umdeutungen ihres Gruppensounds. Das modale Vakuum, in dem Gitarre und Orgel in „No No No“ fast schwerelos solieren: So treffen sich Gemini-Kapseln zum Rendezvous in der Erdumlaufbahn. Und dann erst die leisen Partien in „Fools“: Als würde unter den atmosphärischen Bedingungen eines anderen Planeten neu definiert, was ein Rockquintett ist. Einen ähnlichen Eindruck muss man bei „Anyone’s Daughter“ gewinnen, der sanftes­ten aller Deep-Purple-Balladen, folkig, jazzig, ungewohnt: Hatten etwa musikalische Aliens die Band ersetzt?

Die Wunder des Weltalls

Uriah Heep waren eigentlich immer schon in Fantasien zu Hause: schwarze Romantik, Zauberer und Dämonen, die Vision einer besseren Welt, der „Traveller In Time“ und magische Wirklichkeiten. Return To Fantasy, der Titel ihres achten Studioalbums, hätte auch das Motto ihres ganzen Schaffens sein können. Vielleicht klangen Synthesizer nie geheimnisvoller, kosmischer und vielversprechender als im Titelstück dieses Albums oder im Song „Beautiful Dream“. Wer sich einen Rest Naivität bewahrt hatte – und wer hatte das nicht, der wie ich täglich auf das Erscheinen von Aliens und UFOs hoffte? –, spürte bei Uriah Heep den Hauch einer schöneren, mystischeren Realität, eines glücklichen, fernen Paradies-Planeten. Die Band tat ja auch geradewegs so, als käme sie persönlich vom anderen Ende der Milchstraße, „travelling faster than lightning“, nur um uns abzuholen in eine schöne, neue Welt des Lichts und der Liebe. So ganz genau konnte man allerdings nicht wissen, wohin die Reise führen sollte. „The legend of mystery from the beginning of time“: Das konnte alles Mögliche heißen, war so unscharf und verschwurbelt wie die sphärischen Orgelklänge, die Falsett-Chöre und die Steel-Gitarren. Es ließ viel Raum für Ausdeutung, Hoffnung und Gefühl. Aber das war es ja gerade, was die Fantasie entzündete. Das Fremde blieb fremd und unverständlich und machte Herzklopfen. Wie die Wunder des Universums.

Manfred hieß der Mann, der Uriah Heep einst aus den Tiefen des Alls den Synthesizer gebracht hatte: Manfred Mann. Seine eigene Band nannte er Earth Band, weil sie das Erdige, Rockende, Bluesige betonte – bis Manfred Mann 1973 die Erde auch als Himmelskörper entdeckte und eine klingende Vision des Sonnensystems schuf. Gustav Holsts Orchesterwerk „The Planets“ lieferte die Inspiration. Was Holst allerdings eher astrologisch und mythologisch gemeint hatte – Merkur: der Bote, Jupiter: die Fröhlichkeit –, wurde bei der Earth Band zum zeitgemäßen Planeten-Porträt in der Ära der Weltraumfahrt und elektrischen Keyboards. Das Album Solar Fire startet in religiösem Ernst, bei der Schöpfung und dem Licht in der Dunkelheit, landet dann aber schnell im Humorigen: Pluto ist hier nicht der Herr der Unterwelt, sondern der Hund von Micky Maus, und Saturn heißt der „Lord of the Ring“. Sonne und Erde – die wie Pluto bei Holst nicht vorkommen – bilden die Schwerpunkte im tönenden Solarprogramm der Earth Band. Der eloquenteste Synthesizer der Rockgeschichte scheint dabei immer wieder unerhörte interplanetare Geschichten zu erzählen und nebenher kosmische Funksignale und das Geräusch startender Raumschiffe zu imitieren. Ein Sphärenchor, das Mellotron, die Orgel sorgen für die galaktisch-psychedelische Ausstattung. Den Geist von Solar Fire ist Manfred Mann übrigens nie mehr losgeworden: Bis heute schlägt er sich mit Holsts „Jupiter“ und „Mars“ herum.

Das vierte Album von King Crimson hieß Islands und hielt sich dabei ziemlich streng ans Konzept. Es ging da nämlich tatsächlich viel um Inseln, nicht nur im Titelsong: In den anderen Stücken kamen die Balearen-Insel Formentera vor, auch ein Seemann oder die Seemöwen. Das war ja ganz hübsch, aber die Musik erzählte mir eine andere Story. Zu der passte das Plattencover: ein Foto des Trifidnebels (NGC 6514) im Sternbild des Schützen. Drei galaktische Gebilde, 5000 Lichtjahre von uns entfernt, voneinander getrennt durch eine Dunkelwolke. Wenn King Crimsons diverse Klangerforschungen auf diesem Album an unterschiedliche, isolierte Welten erinnerten, dann am ehesten doch an solche galaktischen Inseln im Kosmos: abenteuerliche, futuristische, unbegreifliche Sternenballungen. Das Album beginnt zum Beispiel mit einem experimentellen Trio aus gestrichenem Kontrabass, Querflöte und Klavier in freier Improvisation: Das war nicht mediterrane Inselromantik, sondern eine schwer zu verortende Randerfahrung. Später im ersten Stück kommen auch Saxofone, akustische Gitarre, wortlose Vokalisen oder Mellotron in die himmelsstürmende Mischung, fantasieren zusammen fünf Minuten lang am interstellaren Abgrund. Aus ihm startet der eigentliche Space-Trip des Albums, für den Robert Fripp auf der E-Gitarre seine Science-Fiction-Neutronentriebwerke zündet: Der Seemann in „Sailor’s Tale“ musste wohl ein Raumschiff-Commander sein und mit Sonnenwind segeln. Andere interstellare Inseln auf dem Album sind eine kleine Kammermusik oder ein Kornettsolo zum Harmonium. Islands wurde zum kurzweiligen Raketenflug durch ein Klanguniversum. In der Musik war die Zukunft schon Gegenwart.

Jazzrock in Warp-Geschwindigkeit

Die Geschichte des Groschenheft-Weltraumhelden Perry Rhodan begann mit einer Mondlandung. Dann führte sie den Protagonisten zu anderen Planeten des Sonnensys­tems, darauf weiter zu Nachbarsternen, später in die Tiefen unserer Galaxis, danach auch zu Nachbargalaxien, anschließend sogar zu entfernteren Galaxien – bis an den Rand des Universums oder darüber hinaus. Ganz ähnlich verlief meine Entdeckungsreise am Plattenspieler. King Crimson war nicht das Ende der Expedition, sondern der Startpunkt weitergehender Erforschungen noch fantastischerer Klangwelten. Mitte der Siebziger wirbelten meine schwarzen Scheiben schon im transgalaktischen Partikelsturm des Jazzrock. Chick Corea zum Beispiel, inspiriert vom Science-Fiction-Schriftsteller und Scientology-Begründer L. Ron Hubbard, fantasierte damals mit seiner Band Return To Forever von Mutterschiffen, kosmischem Regen, einem Weltraumzirkus und der Siebenten Galaxie. Und er war nur einer von vielen, die es unwiderstehlich in die Tiefen des elektrisch pulsierenden Alls zog.

Einige der weitesten Weltraumreisen veranstaltete das Mahavishnu Orchestra 1973 auf Between Nothingness & Eternity. Denn das war ein Live-Album und bestand aus nur drei galaktisch ausgedehnten Stücken. Besonders im mehr als 20-minütigen „Dream“ träumt sich das Quintett durch verschiedene Wirklichkeiten, gerät in abnorme Schwerkraftfelder und elektrisierende Materieströme, die den Hörer damals von einem Aggregatzustand in den nächsten warfen. Während die elektrische Gitarre in Nebelspiralen um Spiralnebel kreist und das E-Piano ganze Bombardements von Neutrinos auffängt, mutiert die elektrische Violine zu einer interstellaren Raumzeitkapsel im Wirbel der Zeitdilatation. Völlig dem Einsteinschen Universum entstiegen war, was die Schlagzeuger damals machten: Bei Mahavishnu war es Billy Cobham, anderswo Lenny White, Alphonse Mouzon oder Tony Williams. Ich fühlte mich, als würden sie mich mit Kometenschwärmen durch den Hyperspace jagen. Die Struktur der Welt war definitiv noch verwirrender, als Planck oder Heisenberg sie sich gedacht hatten. Diese Musik verriet es.

Die Keyboarder schienen damals die Commander, Chefingenieure und Expeditionsleiter aller wichtigen Weltraumflüge zu sein. Mit magischen Fingern hantierten sie im Cockpit ihres Raumschiffs an einem Arsenal von Zukunftsmaschinen: Fender Rhodes, Elektroorgel, Mellotron, Clavinet, Moog, ARP. Auch Herbie Hancock war so einer. Wie immer ich den Albumtitel Thrust auch übersetzte – Achsschub, Axialbewegung, Beschleunigerkraft –, es klang cool nach Weltraumtechnik und extraorbitalem Antrieb. Mit einer damals ganz neuen Funkiness drehten sich hier die Sterne vor dem Panoramafenster der Kommando-Einheit. Eine Supernova explodierte in funkensprühenden Fender-Rhodes-Wolken, die Lichter des Weltalls zogen sich relativistisch in die Länge, ein Saxonaut wirbelte vorüber wie ein taumelnder Asteroid. In diesem Bereich der Galaxis ticken die Naturgesetze anders. Mike Clark, der Protonen-Triebwerks-Drummer der Thrust-Expedition, hat das damalige Vordringen ins Unbekannte ganz genauso erlebt: „Die bestehenden Regeln passten nicht mehr… Es gab keinen Präzendenzfall, keine Parameter... Jede neue Platte schob sich über die Grenzen der vorherigen hinweg... Sobald wir anfingen zu spielen, war es, als ob wir in ‚Warp Speed‘ gingen… Danach stand Herbie auf… ging zur Tür hinaus, still, und sah aus wie Darth Vader.“

Am Rand des Universums

Irgendwie hat es mich bei all den Raumzeit-Manövern dann auch in die Jazz-Galaxis verschlagen, NGC 8421. Dort warteten Soundwaben und Sterndynamiken auf mich, von denen ich kurz zuvor noch nichts geahnt hatte: Töne am Rand des Nichts, Ionenklänge, Überlichtblitze, das Geräusch zerfallender Materie. Seltsame Lebensformen, so lernte ich, erkundeten offenbar schon länger die Multidimensionalität der kosmischen Jazz-Strukturen. Ein gewisser Curtis Counce zum Beispiel hatte schon 1958 ein Album gestartet, das Stücke enthielt wie „Into The Orbit“, „Race For Space“, „Exploring The Future“ oder „The Countdown“. Ein George Russell brachte kurz danach „Jazz In The Space Age“ zum Klingen, fand darin ein „Chromatic Universe“ und den „Waltz From Outer Space“. Später flog er mit den „Stratus Seekers“ zum „Stratusphunk“, litt unterm „Blues In Orbit“, rotierte in der „Time Spiral“ und entdeckte „Six Aesthetic Gravities“. Die Klangwelt-Variationen des Jazzkosmos schienen unendlich.

Unvergesslich bleibt mir meine erste Begegnung mit der Musik von Sonny Blount. In Wirklichkeit war Sonny ein Außerirdischer vom Planeten Saturn, hieß dort Sun Ra und war eines schönen Maientags in einem UFO auf der Erde gestrandet, irgendwo in Nord­amerika. Und hier auf der Erde nun begann er, kosmischen Jazz zu spielen – mit interstellaren Harmonien und Space-Rhythmen aus dem ganzen Sonnensystem. Seine Stücke handeln von fernen Planeten, von außerirdischer Liebe, von Sternenreisen und den Astromärchen, die man sich in der Milchstraße erzählt. Ganz neu – vom Sommer 1976 – war die Aufnahme Cosmos im 12-köpfigen Außerirdischen-Orchester. Da kann man hören, wie es auf Planetenreisen wirklich zugeht: Sun Ras „Rocksichord“ (ein atomar betriebenes Elektronen-Raketen-Keyboard) schwurbelt in elliptischen Kurven durch den Asteroidengürtel, getragen von sphärischem Sonnengebläse („Interstellar Low-Ways“), Bigband-Pulsaren („Neo-Project“), relaxt groovendem UFO-Chor („Moonship Journey“) oder psychedelischen Flötenschwingungen von Transpluto („Journey Among The Stars“). Später hörte ich auch ältere Aufnahmen Sun Ras aus einer Zeit, als er sich noch kaum den irdischen Hörgewohnheiten angepasst hatte. Ich lernte daraus, dass es in der Saturn-Musik völlig andere Klang- und Ablaufgesetze gibt: zunächst ungewohnt, aber auf Dauer durch eine eigene Logik überzeugend. Die irdischen Freejazzer haben manches daraus entlehnt.

Schließlich aber, wenn du weit hinter der letzten Galaxis am Tellerrand des Universums baumelst, frei schwebend zwischen Nichts und Nirwana, zwischen Absurdität und Widersinn, konfrontiert mit der nackten elfdimensionalen Konstruktionsskizze des Kosmos – was bleibt dir da noch? Nicht einmal Sun Ra hatte diese Grenzerfahrung im musikalischen Repertoire. Erstmals gefunden habe ich sie ausgerechnet beim klassischen Pianisten Friedrich Gulda. Für Gegenwart (1976) hat er sich sogar Sun Ras interstellares Rocksichord ausgeliehen – Gulda taufte es um in „elektrisches Clavichord“ –, außerdem einen Bösendorfer-Flügel, zwei Blockflöten und die Perkussionistin Ursula Anders. Gegenwart, das sind fragmentierte Klangdilatationen vom Rande des Universums. Da kommt die Rotationsbewegung der Sternennebel knirschend zum Halten. Das Licht erreicht auf einmal doppelte Lichtgeschwindigkeit. Negative Zeit schlägt um in ultraviolette Dynamik. Mir klang das wie frei improvisierte Sonarträume von zukünftigen Erinnerungen – Erinnerungen an ein Universum, dessen Chaos uns einmal normal schien. Aber auch in solchen tönenden Aporien fand meine kosmische Schallplatten-Reise nicht ihr Ende, nur einen ersten von vielen Berührungspunkten mit dem letzten Geheimnis, der äußeren, das Universum einfassenden schwingenden Entropie. Das Cover zeigt übrigens den Schleiernebel NGC 6992 im Sternbild Schwan. Natürlich auch noch seitenverkehrt.

Mit Vinyl ins All: Das Starterpaket

Pink Floyd: A Saucerful Of Secrets (EMI 157694 1) Nektar: Journey To The Centre Of The Eye (Bellaphon BLPS 19064)

Deep Purple: Fireball (EMI 157562 1)

Uriah Heep: Return To Fantasy (Bronze 28783) Manfred Mann’s Earth Band: Solar Fire (Bronze 28778)

King Crimson: Islands (Island 85806)

Mahavishnu Orchestra: Between Nothingness & Eter- nity (Columbia 32766)

Herbie Hancock: Thrust (Columbia 32965) Sun Ra: Cosmos (Cobra 60005)

(Friedrich Gulda: Gegenwart (E.R.P. 1))